Ich bin fit. Gehe Bouldern. Treibe regelmäßig Sport. Auf meiner Reise durch die Anden in Südamerika habe ich mich bestens akklimatisiert. …und ich habe Höhenangst! Schaffe ich es damit auf den Huayna Potosi in Bolivien, einen 6.000er?
Sollen wir den Aufstieg auf den Huayna Potosi wagen?
Als Sofia mich fragt, ob ich mit ihr auf den Huayna Potosi steige, zögere ich.
Der vergletscherte Hausberg von La Paz in den bolivianischen Anden misst stolze 6.088 Meter. Er gilt als einer der leichtesten 6.000er, ist von La Paz mit dem Auto gut zu erreichen und mit Infrastruktur ausgestattet.
Zahlreiche Agenturen in La Paz bieten auch unerfahrenen Bergsteigern den Aufstieg auf den Huayna Potosi an. Dennoch ist der Berg nicht zu unterschätzen: Felsen, Eis, Schnee und Gletscherspalten bergen Gefahren. Hinzu kommt die Höhenluft.
Nach einem Bier Bedenkzeit willige ich ein. Gebucht werden muss sofort. In einer Stunde schließen die Agenturen. Morgen, an Silvester, geht es los.
Zurück in meinem Hotelzimmer, wachsen die Bedenken. Ich tippe „Aufstieg Huayna Potosi“ in die Suchmaschine ein. Lese von Strapazen und Qualen. Überschätzung. Von leichtfertigem Handeln, miserabler Ausstattung und dürftiger Vorbereitung.
Und ich lese von dem ergreifenden Moment, es auf den Gipfel des Huayna Potosi geschafft zu haben. Von dem spektakulären Blick über die schneebedeckten Berge hinunter auf die Lichter von La Paz.

Ok, sage ich mir. Ich versuche es. Aber es muss nicht unbedingt der Gipfel sein. Ich gehe so weit, wie ich kann. Und will.
Sofia sieht das zum Glück genauso, denn wir steigen gemeinsam mit einem Guide auf den Huanya Potosi. Wenn eine von uns umkehrt, muss die andere mit hinunter.
Etappe 1: Vom Zongo-Pass zum Hochlager
Mit dem Auto fahren wir von La Paz in etwa zwei Stunden zum Basiscamp am Zongo-Pass auf 4.750 Metern. Wir stärken uns bei Sandwiches zum Mittag.
Ein eisiger Wind fegt in die Hütte, als sich die Tür öffnet. Hinein schleppen sich drei junge Männer. Gut trainiert, aber am Ende ihrer Kräfte. Kreidebleich im Gesicht. Ohne ein Wort zu sagen, lassen sie sich auf die Bank fallen. Nach ein paar Minuten kommen sie wieder zu Atem. Schnallen langsam ihre Rucksäcke ab. Schälen sich aus den dicken Jacken. Trinken gierig.
Sie kommen gerade vom Gipfel des Huayna Potosi. Zumindest einer von ihnen, die anderen sind vorher umgekehrt. Irgendwo habe ich gelesen, dass knapp 30 Prozent der Laien-Bergsteiger den Gipfel des Huayna Potosi erreichen.
Der erfolgreiche Gipfelstürmer gibt uns noch einen Tipp mit auf den Weg: „Eßt so viel ihr könnt. Auch wenn ihr keinen Hunger habt. Ihr braucht die Energie.“ „Mir tat alles weh“, ergänzt er. Jetzt bekomme ich Angst.
Aber für ein Zurück ist es zu spät. Wir schultern unsere geliehenen Rucksäcke. Sie sind für uns schmalen Mädels viel zu groß. Ebenso die Thermohosen und Jacken von der Agentur.
Ganz schön schwer das ganze Equipment: Drei Lagen Klamotten, Handschuhe und Fäustlinge, Sturmhaube, Schlafsack, Eispickel, Steigeisen, Klettergurte, Helm, Stirnlampe, Gamaschen, Bergsteigerstiefel. Dazu zwei Liter Wasser sowie Essen, Sonnenbrille, Sonnencreme, Zahnbürste, Contaktlinsen… Alles für nur eine Nacht.
Doch die erste Etappe auf den Huayna Potosi meistern wir easy. Trotz dünner Luft in der Höhe der Anden wandern wir schnell bergan. Über Geröll und Steine stiefeln wir durch den Schneeregen. Die Kapuzen gegen den Wind tief ins Gesicht gezogen.

Nach gut zwei Stunden erreichen wir unserer Berghütte auf 5.130 Metern Höhe. Ein einfaches Bruchsteinhaus vor dem Gletscher des Huanya Potosi.

Mit Eispickel und Steigeisen klettern üben
Jetzt heißt es, Eisklettern üben. Schließlich ist der Aufstieg auf den Huayna Potosi unsere erste Tour mit Steigeisen. Und den Eispickel richtig einzusetzen, will gelernt sein. Nach etwa einer halben Stunde, reicht es unserem Guide Rodrigo.
Vielleicht, weil uns die Agentur versprach, wir müssen nicht klettern? Sonst wäre ich mit meiner Höhenangst ohnehin unten geblieben…

Also genießen wir die Aussicht. Bereits aus dieser Höhe reicht der Blick weit über die schneebedeckten Anden Südamerikas.

Wieder in der Hütte, steht das Essen bereits auf dem Tisch. Nudeln mit Fleisch. Das gibt Energie für den morgigen Aufstieg. Die Guides haben gekocht.
Es schmeckt furchtbar! Der Appetit ist uns in der Höhe ohnehin vergangen. Doch die Worte des Gipfelstürmers im Ohr, zwingen wir uns Bissen für Bissen hinunter.
Gegen acht beziehen wir unser Quartier in den Etagenbetten, denn um kurz vor Mitternacht klingelt bereits der Wecker. Die übrigen, rund zehn Betten, stehen leer.
Das Einschlafen fällt schwer, meine Gedanken kreisen um den bevorstehenden Aufstieg. Wie weit werde ich es schaffen? Muss ich doch klettern? Sollten wir lieber morgen früh direkt umkehren?

Etappe 2 auf den Huayna Potosi
Um Punkt Mitternacht sitzen wir schläfrig beim Frühstück und stoßen mit Cocatee müde auf das Neue Jahr an. Fast hätte ich vergessen, dass Silvester ist.
Rodrigo, unser Guide, drängt zum Aufbruch. Zum Sonnenaufgang sollen wir auf dem Gipfel sein.
Sofia leidet unter der Höhe. Ihr Kopf brennt. Dennoch wollen wir es versuchen. Im Dunkeln legen wir unsere komplette Bergsteiger-Montur an: Klamottenschicht über Klamottenschicht, Handschuhe, Fäustlinge, Sturmhaube, Helm und Stirnleuchte, Gamaschen, mehrere Paar Socken und Bergsteigerstiefel. Heißen Tee und Kekse im Rucksack verstaut, kann es endlich losgehen.
In der dünnen Luft ist jeder Schritt doppelt so anstrengend. Dreifach. Oder sogar zehnfach!
Langsam schieben wir uns, angegurtet an Rodrigo, den Huayna Potosi hinauf: Eispickel einschlagen, Schritt, Schritt. Eispickel, Schritt, Schritt… Außer dem ‚tock‘ des Eispickels, unseren Schritten und Atem ist nichts zu hören. Absolute Stille.
Unter uns tauchen die Lichter von El Alto und La Paz auf. Ein fantastischer, surrealer Anblick. Doch Zeit, um den Blick zu genießen, bleibt nicht. In jeder Pause kühlen wir mehr aus und Rodrigo treibt uns voran.

Meine Stirnlampe funkelt nur leicht. Im Lichtschein sehe ich kaum den Schnee vor mir. Wir balancieren an Abhängen vorbei. Immer wieder umkreisen wir Gletscherspalten. Kehren um. Suchen neue Wege über das Eis.
Kraftvoll stampfen wir mit den Steigeisen auf, um Halt zu finden. Ab und an versinkt das halbe Bein dabei im Schnee. Ich klammere mich an meinen Eispickel, den ich vor jedem Schritt in den Schnee vor mich ramme und damit auf Festigkeit prüfe. Und zur Not hält das Seil, denke ich.
Nach dem nächsten festen Tritt ist mein Steigeisen verschwunden. Meine Lebensversicherung auf dem Eis, einfach weg!
Nach kurzem Suchen im Schnee taucht es wieder auf. Zum Glück ist es nicht den Abhang hinunter gerutscht. Wieder angeschnallt, geht es weiter.

Tritt für Tritt dem Gipfel entgegen
Es wird steiler. In Serpentinen schleppen wir uns den Hang des Huayna Potosi hinauf. Die Abstände zwischen den Pausen schrumpfen. Ich habe keine Energie mehr, um Fotos zu machen, die Kamera aus dem Rucksack zu kramen. Nach nicht einmal vier Stunden Schlaf, holt uns die Müdigkeit ein.
„Muy cansadas! – Sehr müde!“ Es ist keine Frage unseres Guides sondern eine Feststellung. Wir sinken auf das kalte Eis. Rodrigo reicht uns einen Schokoriegel. Dazu ein Schluck heißer Cocatee.
Meine Finger sind in den zwei Paar Handschuhen inzwischen komplett taub. „Wollt ihr umkehren?“, fragt Rodrigo. Nein, wir wollen weiter! Ein bisschen schaffen wir noch. Noch ein Stückchen weiter den Huayna Potosi hinauf.
Mein Mantra…
Tock, Schritt, Schritt. Tock, Schritt, Schritt. In meinem Kopf ist kein Platz mehr für Gedanken. Monoton wiederhole ich „Tock, Schritt, Schritt.“ Mein Mantra. Immer schön im Takt bleiben.
Nach jedem Dreiklang folgt eine kurze Pause. Jedes Mal wenn ich Innehalte, zieht Rodrigo mich am Seil voran. Und jedes Mal wenn ich zum nächsten „Tock, Schritt, Schritt“ ansetze, spannt sich das Seil hinter mir und zieht Sofia nach.
Klettern am Hang des Huanya Potosi
Nach bald vier Stunden im Schneckentempo erhebt sich vor uns eine Eiswand. 50 bis 60 Grad steil geht es den Huanya Potosi hinauf. Ungläubig blicke ich Rodrigo an. Wir müssen nicht klettern, oder? Doch, es führt kein Weg dran vorbei!
Genau dreimal haben wir den Ablauf gestern im Eis geübt – an einem flachen Hang: Erst den Eispickel über dem Kopf fest ins Eis schlagen, die Faust daneben boxen, den rechten Fuß mit dem Steigeisen ins Eis rammen, den linken hinterher. Dann das Ganze von vorne.
In der Theorie gar nicht so schwer. Die Wand ist nicht hoch. Vielleicht 30 bis 50 Meter. Ich versuche es.
Rodrigo klettert voraus. Dann bin ich dran. Ich schlage meinen Eispickel ein, ziehe mich hoch. Ich bin völlig erschöpft. Meine Arme kraftlos. Vor mir öffnet sich eine Spalte im Eis, um die ich herum muss. Es ist nach wie vor stockdunkel. Mit meiner funzeligen Lampe sehe ich fast nichts.
Ich blicke nach unten. Mehrere hundert Meter fällt der Hang steil ab. Was, wenn ich hier wieder mein Steigeisen verliere? Wenn ich abrutsche, ziehe ich Sofia mit. Kann Rodrigo uns beide halten? Meine Knie fangen an zu zittern.
Nein, hier reicht es. Ich blicke mich zu Sofia um. Sie nickt.
… und hinab ins Hochlager
Den Berg hinunter geht es schnell. Nach einer Stunde sind wir zurück an der Hütte im Hochlager des Huanya Potosi. Zeit um zu entspannen und neue Kräfte zu sammeln, bevor es mit Sack und Pack ins Tal geht. Bei aufgehender Sonne genießen wir den Blick über die Berge.
ATEMBERAUBEND! Allein hierfür haben sich die Strapazen gelohnt. …und für das Gefühl, einmal bis an meine Grenzen gegangen zu sein.


Auf über 5.700 Meter haben wir es geschafft. Darauf sind wir stolz! Das war bestimmt ein Silvester, das ich so schnell nicht vergesse. Und wir wissen, dass wir in diesem Jahr schon einiges geleistet haben… Feliz Ano Nuevo!
10 Tipps für Bergesteiger-Neulinge wie mich, die auf den Huayna Potosi wollen:
- Der Aufstieg ist definitiv anstrengend! Für mich war es anstrengender als alles andere, was ich in meinem Leben gemacht habe. Wenn du zum Gipfel willst, musst du an deine Grenzen gehen und vielleicht darüber hinaus.
- Du musst klettern im Eis – auch wenn dir Agenturen was anderes sagen. Mit Eispickel und Steigeisen. Traust du dir das zu?
- Vergleiche Agenturen. Schau dir die Ausstattung an. Ist das Material in Ordnung? Gibt es Ausrüstung in deiner Größe? Wird dir realistisch geschildert, was dich erwartet? Dabei sollte nicht der Preis allein entscheidend sein. Suche dir eine professionelle Agentur, die auf Bergtouren spezialisiert ist.
- Wenn du noch nie im Eis geklettert bist, buche die 3-Tagestour! An dem zusätzlichen Tag übt ihr Klettern im Eis und ihr akklimatisiert euch in der Höhe. Du wirst es später auf dem Weg zum Gipfel des Huanya Potosi brauchen.
- Such dir einen Guide, der dich motivieren kann. Dich anspornt. Weitertreibt, wenn du glaubst nicht mehr zu können.
- Bewaffne dich mit Energieriegeln. Die Schokolade unseres Guides hat uns nur kurzfristig voran gebracht.
- Teilt ihr euch zu zweit einen Guide, heißt es für beide umkehren, wenn einer nicht mehr kann. Seid euch darüber im Klaren.
- Es ist keine Schande umzukehren. Egal wie weit du kommst, es ist eine tolle Leistung! Falscher Stolz ist hier fehl am Platz. Damit gefährdest du dich und andere.
- Akklimatisieren: Verbringe vor dem Aufstieg unbedingt einige Zeit in der Höhe der Anden.
- Vorbereitung: Planst du den Aufstieg langfristig, gehe in den Monaten zuvor Wandern, steige Treppen oder besteige am besten kleinere Berge.
Ob dich diese Tipps auf den Gipfel bringen, weiß ich nicht. Aber ich wäre dankbar gewesen, sie vor meinem Aufstieg zu lesen. Und ein ganz besonderes Erlebnis, ist es so oder so.
Also, Trau dich und viel Glück!
Falls du noch etwas Motivation brauchst, kann ich dir den Erfahrungsbericht der Reisedepechen über den Gipfelsturm des Huayna Potosi ans Herz legen.
Beste Zeit den Huayna Potosi zu besteigen
Die beste Zeit für Trekking in der Cordillera Real ist zwischen April und November. Dann gibt es weniger Regen und der Himmel ist schön klar. Jedoch ist es in dieser Zeit eisig kalt, bis zu -20 Grad und die Tage sind kurz. Im südamerikanischen Sommer ist es wärmer, jedoch regnet es oft und es weht ein starker Wind.
Wir sind zum Jahreswechsel auf den Huayna Potosi gestiegen und hatten Glück mit dem Wetter. Nach heftigem Wind und Schneeregen auf dem Weg zum Hochlager, hat es dort aufgeklart. Nach Sonnenaufgang hatten wir am nächsten Morgen einen herrlichen Blick.
Ausführliche Informationen zu Wetter und Klima in Bolivien ► Die beste Reisezeit für Bolivien
Meine Etappen auf dem Weg der Akklimatisation
Während meiner Reise durch die Anden Südamerikas habe ich mich bereits gut an die Höhe gewöhnt, bevor ich den Aufstieg auf den Huanya Potosi wagte. Unter anderem war ich hier zuvor schon aktiv in den Anden unterwegs:
- Trekking in Banos, Ecuador
- Vulkan Chimborazo, Ecuador
- Trekking im Colca Canyon, Peru
- Inka Pfad zum Machu Picchu, Peru
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